"Mama braucht mich doch!"
Minderjährige Kinder, die pflegen. „Ja gibt’s das denn?“ werde ich immer wieder gefragt. Ja, es gibt sie! Und alleine diese Frage zeigt das große Dilemma pflegender Kinder. Ihre Arbeit wird nicht wahrgenommen. Sie werden meist alleine gelassen.
Obwohl ich seit Jahren pflegebedürftige Menschen zu Hause besuche und dabei natürlich auch Kontakt zu Familien mit Kindern hatte, habe auch ich pflegende Kinder lange nicht gesehen.
Wie konnte mir das als engagierte Pflegeberaterin passieren?
Meist waren die Kinder bei meinen Hausbesuchen in der Schule oder sie wurden von den Eltern ins Zimmer geschickt, um Hausaufgaben zu machen oder zu spielen. Aber habe ich jemals gefragt, ob die Kinder bei der Pflege mithelfen? Nein, wohl nicht.
Ich habe mich in der Beratung auf jene Personen konzentriert, die mir als Hauptpflegepersonen genannt wurden: Gatte oder Gattin, Bruder, Schwester, Vater, Mutter, die Freundin, der Nachbar. Pflegende Kinder habe ich schlichtweg übersehen. Sie wurden mir aber auch kein einziges Mal als Helfende genannt. Ihre Arbeit wurde verschwiegen.
Pflegende Kinder- unsichtbar und alleingelassen
Es war die berührende Reportage „Für Mama tue ich alles“ von Simone Graps, gezeigt vom ZDF im Mai 2010, die mich wachgerüttelt hat. Der Kurzfilm zeigt am Beispiel von zwei betroffenen Familien das Leben pflegender Kinder. Seit diesem Film frage ich bei Hausbesuchen dezidiert nach, ob im Haushalt minderjährige Kinder leben. Außerdem hole ich sie nun, nach Einschätzung der Situation, sogar zum Beratungsgespräch dazu. Ich erlebe dabei Kinder, die sich ihrer Leistung gar nicht bewusst sind, die stolz drauf sind „Mama/ Papa zu helfen“, die glauben immer stark sein zu müssen. Und ich erlebe viel Scham in den Familien. Darf man als gute Mutter/ guter Vater sein Kind mit Pflege belasten? Man müsste doch für das Kind da sein und nicht umgekehrt.
Kinder für Pflegearbeit zu brauchen schmerzt und kratzt am Selbstverständnis als Eltern. Daher soll die Pflegearbeit der Kinder möglichst nicht sichtbar werden. Dazu kommt die Angst der Eltern vor dem Jugendamt, davor dass ihnen die Kinder weggenommen werden. Die meisten betroffenen Familien nehmen wohl auch deshalb keinen ambulanten Pflegedienst in Anspruch.
Wir schaffen das schon?
Aber pflegende Kinder werden auch vom Umfeld alleine gelassen, von LehrerInnen oder von VertreterInnen des Gesundheitssystems.
Die 10 jährige Melissa erzählt etwa in der oben genannten Reportage, wie der Arzt im Krankenhaus sie mit den Worten „Deine Mutter hat nicht mehr lange zu leben“ aufklärte über die Krebserkrankung ihrer alleinerziehenden Mutter. Was soll ein Kind mit so einer Information anfangen?
Ihr 14 jähriger Bruder Michael versucht dann auch stark zu bleiben, beschwichtigt Mutter und Schwester mit den Worten: Wir schaffen das schon“. Der Kloß im Hals verschlägt ihm dabei fast die Sprache.
Und tatsächlich, die beiden Kinder schaffen es „Mama zu helfen“. Sie stehen der krebskranken Mutter bei den Nebenwirkungen der Chemotherapie bei, helfen bei der Körperpflege, führen den Haushalt, geben Trost bei Schmerzen, Rückschlägen, Angst und Verzweiflung. Sie schaffen viel und bleiben selbst alleine – etwa mit ihrer Angst, dass die Mutter sterben könnte.
25.000 Kinder in Österreich – wenig Zeit für Kind-sein und Schule
Wie viele Kinder in Österreich pflegen, kann nur geschätzt werden, es gibt keine Erhebungen. Nicole Ortner legte 2009 die Diplomarbeit „Krebs – was ist das? Young carers kindergerecht informieren“ vor. Sie schätzt für Österreich ungefähr 25.000 pflegende Kinder, sie kümmern sich meist um einen Elternteil der an Krebs, Lähmungen oder Multipler Sklerose leidet, aber auch bei Depressionen, Suchterkrankungen oder Psychosen sind Kinder pflegerisch aktiv.
Etwa 80% der pflegenden Kinder sind schulpflichtig, Betroffene berichten von Konzentrationsproblemen in der Schule, Leistungsabfall und auch davon, dass sie „schon mal zu Hause blieben, wenn es Mama schlecht geht“. Es ist daher nicht von der Hand zu weisen, dass Pflegearbeit im Kindesalter, neben körperlichen Folgen auch Auswirkungen haben wird auf Bildung und spätere berufliche Möglichkeiten. Aber auch auf die soziale Integration wirkt die Pflegetätigkeit. Betroffene Kinder verzichten zu Gunsten des erkrankten Elternteils in hohem Ausmaß auf Kind-sein, wie Toben und Spielen, auf Freizeit und auf Freundschaften. Sie ziehen sich oft zurück, sind immer für den kranken Elternteil da und isolieren sich.
Pflegende Kinder müssen unterstützt werden!
Das Thema „Pflegende Kinder“ hat den Tabubereich verlassen und wird endlich erkannt – das zeigen einige Radiosendungen in den letzten Monaten ebenso wie Fachartikel.
Einen wichtigen Schritt in diese Richtung geht auch die 2010 gegründete „Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger“. Sie ruft Menschen dazu auf, pflegende Kinder wahrzunehmen und sich an die Interessensgemeinschaft zu wenden. Pflegenden Kindern soll eine Stimme gegeben werden.
Was jetzt rasch folgen sollte, hier ist vor allem die Politik gefordert, ist eine breite Sensibilisierung, etwa bei ÄrztInnen, Pflegepersonen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. Außerdem muss betroffenen Eltern die Angst genommen werden, damit sie verstärkt ambulante Pflegedienste in Anspruch nehmen und so ihre Kinder entlasten. Es gehören rasch unterstützende Strukturen aufgebaut, etwa kostenlose Nachhilfe, psychologische Begleitung oder eine Hotline für den Notfall.
Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, pflegende Kinder über Soziale Netzwerke wie Facebook zu erreichen. Gekoppelt an eine Homepage mit kindergerechten Informationen zu Krankheiten und Pflege könnte man Information und Austausch bieten und so ihr Alleinsein beenden.
Doch wir müssen nicht warten bis andere etwas tun. Jede/r Einzelne kann einen ersten Schritt tun und pflegende Kinder im Umfeld wahrnehmen. Ganz oben auf deren Wunschliste steht nämlich „jemanden zum Reden zu haben“.
Adressen und Literatur:
Interessensgemeinschaft pflegende Angehörige, office(at)ig-pflege.at, www.ig-pflege.at
Nicole Ortner, „Krebs – was ist das? Young carers kindergerecht informieren“, 2009
„Für Mama tue ich alles“, Reportage der ZDF-Sendereihe „37 Grad“ http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1030184/Fuer-Mama-tue-ich-alles?setTime=39#/beitrag/video/1030184/Fuer-Mama-tue-ich-alles
Der Artikel, verfasst von Sonja Schiff, erschien im April 2011 in der Zeitschrift "daSein" in Vorarlberg..
Obwohl ich seit Jahren pflegebedürftige Menschen zu Hause besuche und dabei natürlich auch Kontakt zu Familien mit Kindern hatte, habe auch ich pflegende Kinder lange nicht gesehen.
Wie konnte mir das als engagierte Pflegeberaterin passieren?
Meist waren die Kinder bei meinen Hausbesuchen in der Schule oder sie wurden von den Eltern ins Zimmer geschickt, um Hausaufgaben zu machen oder zu spielen. Aber habe ich jemals gefragt, ob die Kinder bei der Pflege mithelfen? Nein, wohl nicht.
Ich habe mich in der Beratung auf jene Personen konzentriert, die mir als Hauptpflegepersonen genannt wurden: Gatte oder Gattin, Bruder, Schwester, Vater, Mutter, die Freundin, der Nachbar. Pflegende Kinder habe ich schlichtweg übersehen. Sie wurden mir aber auch kein einziges Mal als Helfende genannt. Ihre Arbeit wurde verschwiegen.
Pflegende Kinder- unsichtbar und alleingelassen
Es war die berührende Reportage „Für Mama tue ich alles“ von Simone Graps, gezeigt vom ZDF im Mai 2010, die mich wachgerüttelt hat. Der Kurzfilm zeigt am Beispiel von zwei betroffenen Familien das Leben pflegender Kinder. Seit diesem Film frage ich bei Hausbesuchen dezidiert nach, ob im Haushalt minderjährige Kinder leben. Außerdem hole ich sie nun, nach Einschätzung der Situation, sogar zum Beratungsgespräch dazu. Ich erlebe dabei Kinder, die sich ihrer Leistung gar nicht bewusst sind, die stolz drauf sind „Mama/ Papa zu helfen“, die glauben immer stark sein zu müssen. Und ich erlebe viel Scham in den Familien. Darf man als gute Mutter/ guter Vater sein Kind mit Pflege belasten? Man müsste doch für das Kind da sein und nicht umgekehrt.
Kinder für Pflegearbeit zu brauchen schmerzt und kratzt am Selbstverständnis als Eltern. Daher soll die Pflegearbeit der Kinder möglichst nicht sichtbar werden. Dazu kommt die Angst der Eltern vor dem Jugendamt, davor dass ihnen die Kinder weggenommen werden. Die meisten betroffenen Familien nehmen wohl auch deshalb keinen ambulanten Pflegedienst in Anspruch.
Wir schaffen das schon?
Aber pflegende Kinder werden auch vom Umfeld alleine gelassen, von LehrerInnen oder von VertreterInnen des Gesundheitssystems.
Die 10 jährige Melissa erzählt etwa in der oben genannten Reportage, wie der Arzt im Krankenhaus sie mit den Worten „Deine Mutter hat nicht mehr lange zu leben“ aufklärte über die Krebserkrankung ihrer alleinerziehenden Mutter. Was soll ein Kind mit so einer Information anfangen?
Ihr 14 jähriger Bruder Michael versucht dann auch stark zu bleiben, beschwichtigt Mutter und Schwester mit den Worten: Wir schaffen das schon“. Der Kloß im Hals verschlägt ihm dabei fast die Sprache.
Und tatsächlich, die beiden Kinder schaffen es „Mama zu helfen“. Sie stehen der krebskranken Mutter bei den Nebenwirkungen der Chemotherapie bei, helfen bei der Körperpflege, führen den Haushalt, geben Trost bei Schmerzen, Rückschlägen, Angst und Verzweiflung. Sie schaffen viel und bleiben selbst alleine – etwa mit ihrer Angst, dass die Mutter sterben könnte.
25.000 Kinder in Österreich – wenig Zeit für Kind-sein und Schule
Wie viele Kinder in Österreich pflegen, kann nur geschätzt werden, es gibt keine Erhebungen. Nicole Ortner legte 2009 die Diplomarbeit „Krebs – was ist das? Young carers kindergerecht informieren“ vor. Sie schätzt für Österreich ungefähr 25.000 pflegende Kinder, sie kümmern sich meist um einen Elternteil der an Krebs, Lähmungen oder Multipler Sklerose leidet, aber auch bei Depressionen, Suchterkrankungen oder Psychosen sind Kinder pflegerisch aktiv.
Etwa 80% der pflegenden Kinder sind schulpflichtig, Betroffene berichten von Konzentrationsproblemen in der Schule, Leistungsabfall und auch davon, dass sie „schon mal zu Hause blieben, wenn es Mama schlecht geht“. Es ist daher nicht von der Hand zu weisen, dass Pflegearbeit im Kindesalter, neben körperlichen Folgen auch Auswirkungen haben wird auf Bildung und spätere berufliche Möglichkeiten. Aber auch auf die soziale Integration wirkt die Pflegetätigkeit. Betroffene Kinder verzichten zu Gunsten des erkrankten Elternteils in hohem Ausmaß auf Kind-sein, wie Toben und Spielen, auf Freizeit und auf Freundschaften. Sie ziehen sich oft zurück, sind immer für den kranken Elternteil da und isolieren sich.
Pflegende Kinder müssen unterstützt werden!
Das Thema „Pflegende Kinder“ hat den Tabubereich verlassen und wird endlich erkannt – das zeigen einige Radiosendungen in den letzten Monaten ebenso wie Fachartikel.
Einen wichtigen Schritt in diese Richtung geht auch die 2010 gegründete „Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger“. Sie ruft Menschen dazu auf, pflegende Kinder wahrzunehmen und sich an die Interessensgemeinschaft zu wenden. Pflegenden Kindern soll eine Stimme gegeben werden.
Was jetzt rasch folgen sollte, hier ist vor allem die Politik gefordert, ist eine breite Sensibilisierung, etwa bei ÄrztInnen, Pflegepersonen, LehrerInnen und SozialarbeiterInnen. Außerdem muss betroffenen Eltern die Angst genommen werden, damit sie verstärkt ambulante Pflegedienste in Anspruch nehmen und so ihre Kinder entlasten. Es gehören rasch unterstützende Strukturen aufgebaut, etwa kostenlose Nachhilfe, psychologische Begleitung oder eine Hotline für den Notfall.
Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, pflegende Kinder über Soziale Netzwerke wie Facebook zu erreichen. Gekoppelt an eine Homepage mit kindergerechten Informationen zu Krankheiten und Pflege könnte man Information und Austausch bieten und so ihr Alleinsein beenden.
Doch wir müssen nicht warten bis andere etwas tun. Jede/r Einzelne kann einen ersten Schritt tun und pflegende Kinder im Umfeld wahrnehmen. Ganz oben auf deren Wunschliste steht nämlich „jemanden zum Reden zu haben“.
Adressen und Literatur:
Interessensgemeinschaft pflegende Angehörige, office(at)ig-pflege.at, www.ig-pflege.at
Nicole Ortner, „Krebs – was ist das? Young carers kindergerecht informieren“, 2009
„Für Mama tue ich alles“, Reportage der ZDF-Sendereihe „37 Grad“ http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1030184/Fuer-Mama-tue-ich-alles?setTime=39#/beitrag/video/1030184/Fuer-Mama-tue-ich-alles
Der Artikel, verfasst von Sonja Schiff, erschien im April 2011 in der Zeitschrift "daSein" in Vorarlberg..
Care Consulting - 2011-04-12 15:46